Willkommen zu einer weiteren Folge Haecksenwerk!
Haecksenwerk ist das Podcastkollektiv der Haecksen. Es geht um die ganze Bandbreite von Technik, Kultur und Feminismus. In unserem Podcast möchten wir Einblicke in Themen geben, die uns bewegen.
Diese nicht gerade kurze Folge ist ganz dem Roman „Frankenstein – Oder der moderne Prometheus“ von Mary Shelley gewidmet. naerrin liest in Auszügen aus dem Roman vor und hat dafür Kapitel gewählt, die eine besondere Beziehung zu aktuellen Themen herstellen können. In einer kleinen Einführung geht es vor allem um die Verbindung von „Frankenstein“ und Science Fiction, ehe die Lesung beginnt und am Ende nochmal ein kleiner Abschluss folgt.
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Stichworte
Frankenstein, Mary Shelley, Lesung, Science Fiction, Literatur, #frauenLesen
Credits
Transkript
Willkommen zu einer neuen Folge Hexenwerk. Ich bin naerrin und habe euch Mary Shelleys Frankenstein mitgebracht. Hin und wieder kann mensch ja lesen, dass Mary Shelley, die oft unterschlagene Mutter der Science Fiction sei. Und ja, das stimmt. Und gleichzeitig auch eigentlich nicht, aber dazu später mehr. Ich bin auf dieses Thema gekommen, weil ich mich in meiner Promotionsarbeit auch mit dem Themenfeld „Wissen und Wissenschaft in Literatur“ beschäftige, zwar mit der Gegenwartsliteratur, aber Mary Shelleys Frankenstein ist ein ebenso interessantes Forschungsobjekt wie alles, was jetzt erscheint. Persönlich interessiere ich mich außerdem für Science Fiction und was dieses Genre für uns leisten kann als Leserschaft. Ich möchte in dieser Folge ein bisschen erzählen, warum Frankenstein tatsächlich ein 1A-Science Fiction Roman ist und natürlich das Werk selbst vorstellen, besser gesagt vorlesen und zwar Auszüge daraus. Dafür habe ich mir nämlich ein paar Kapitel rausgesucht, die meiner Meinung nach besonders wichtig sind und bestimmte Aspekte besonders schön zeigen. Nach der Lesung möchte ich am Schluss dann noch einmal kurz darauf zurückkommen, wer nun eigentlich die Science Fiction erfunden hat.
So, aber jetzt erstmal vorweg. Wer war diese Mary Shelley? Mary Wollstonecraft Shelley, geboren als Mary Wollstonecraft Godwin, wurde im August 1797 in London geboren, wo sie auch verstorben ist, und zwar am 1. Februar 1851. Dazwischen hat sie auch viel Zeit im Ausland verbracht und war auf sehr vielen Reisen unterwegs. Mary Shelley hat Frankenstein im Jahr 1818 veröffentlicht, also vor 204 Jahren. Und das war ganze zehn Jahre, bevor Jules Verne überhaupt geboren wurde, der immer wieder als einer der Urväter oder Begründer der modernen Science Fiction Literatur bezeichnet wird. Der Roman Frankenstein wird dabei oft eher als Werk der Fantastik oder der Romantik bezeichnet, dabei wird aber eben etwas Wichtiges unterschlagen, wie ich finde, nämlich die Aspekte von Science Fiction, die sich in diesem Text finden lassen. Das passiert offenbar vor allem, aber nicht nur im deutschsprachigen Raum. Sogar die Encyclopedia Britannica deutet nämlich zaghaft an, dass Frankenstein auch hin und wieder zur Science Fiction gezählt wird, allerdings scheint das allgemein eher unbekannt zu sein, wenn mensch sich nicht explizit dafür interessiert. Mit dieser Folge möchte ich daher damit etwas aufräumen, dass Mary Shelley als Frau und Autorin immer wieder zur Fantastik geschoben wird, während andere Autoren ihrer Epoche durchaus zur Science Fiction gerechnet werden.
Aber erstmal, warum das mit der Romantik und der Fantastik nicht ganz falsch ist? Shelley schreibt natürlich im Kontext ihrer Zeit, und sie lebte und arbeitete in der Epoche der Romantik, das heißt, sie hat Erzählweisen und Stilmittel aufgegriffen, die verbreitet waren und ihre Epoche gekennzeichnet haben. Wenn man im deutschen Sprachraum mal auf E. T. A. Hoffmann und seine fantastischen bis schaurigen Texte guckt, fallen schon deutliche Parallelen zwischen ihm und Shelley auf, also in den Texten beider. Das Unheimliche spielt ebenso eine Rolle wie die Vorgänge in der Natur. Und natürlich ist die zutiefst emotionale und sehr empfindsame Auseinandersetzung Frankensteins mit seiner schaurigen Tat, wie er sie selber auch nennt, und des Monsters, wie wir es meistens nennen, beziehungsweise des Dämons, wie er es nennt, durchaus romantisch auserzählt. Also im literaturwissenschaftlichen Sinne romantisch.
Aber warum dann auch Science Fiction? Und ich meine das tatsächlich als Ergänzung und nicht als entweder-oder. Es ist aufgrund der Themen, die Shelley heranzieht. Wissen und Wissenschaft spielt in Frankenstein eine sehr große Rolle, insbesondere der Galvanismus, der Ende des 18. Jahrhunderts die Bühne der Wissenschaft betrat. Und mit Galvanismus wird das bezeichnet, was der Italiener Luigi Galvani Ende des 18. Jahrhunderts nämlich entdeckt hat, und zwar, dass unter Einwirkung von Strom Muskeln, auch abgetrennter Körperteile, wie bei den berühmten Froschschenkeln, zucken können. Darauf folgten viele biologische Experimente, aber auch in der Naturphilosophie wurde das Thema diskutiert, zum Beispiel, inwiefern Elektrizität als Kraft des Lebens zu verstehen ist. Und Galvanismus, das war Forschung, Wissenschaft, oder auch, wie wir heute sagen könnten, Science. Und Shelley hat daraus Literatur gemacht, also sozusagen Fiction. Shelley hat also Forschung, die zu ihrer Zeit betrieben wurde, aufgegriffen und mit den Mitteln der Fiktion weitergedacht, was unter bestimmten Annahmen passieren könnte. Es gibt eine schöne Umschreibung für Science Fiction. Sie ist die Literatur des „What if“, des „Was wäre wenn“. In Science Fiction wird in der Regel etwas Bestimmtes angenommen. Manche Literaturwissenschaftler*innen bezeichnen das als das Novum, das Ding, das quasi den Text auslöst, beziehungsweise die Welt auslöst, in der sich die Geschichte eines Textes ereignet. Das Novum ist das Neue, das hinzugefügt wird, woraufhin bestimmte Konsequenzen zu einer gewissen Realität führen. Nehmen wir als Beispiel mal die Entdeckung des Warpantriebs. Davon ausgehend wurde eine Fiktion entwickelt, die uns etwas über die Möglichkeiten und vor allem die Konsequenzen bestimmter Entwicklungen erzählen soll. Krass gesagt, ohne die theoretische Erfindung des Warpantriebs wäre das Star Trek-Universum nicht denkbar, denn all die Dinge, die dort passieren, basieren darauf, dass dieser erfunden wurde. Kein Warpantrieb, kein Kontakt zu anderen Zivilisationen, keine Reise an für uns unerreichbare Ecken des Universums. Und ich persönlich finde, dass das auch in Mary Shelley’s Frankenstein stattfindet. Hier ist das Novum die wissenschaftliche Grundlage für das Wiederbeleben toter Körper, also das, was mit dem Galvanismus versucht wurde. Die Wissenschaft, eben vor allem der Galvanismus, bietet hier den Ausgangspunkt für das, was wir im Roman als Lesende oder Hörende erfahren, weil Shelley weiterdenkt, was wäre wenn. Aber ist der Galvanismus und die Tatsache, dasss Frankenstein Wissenschaftler ist, schon alles, was aus diesem Text Science Fiction macht? Nein. Denn was die große Leistung von Mary Shelley ist, ist, dass sie in ihrem Roman bereits vieles schreibt und vorweg nimmt, was heute in den Diskurs über künstliche Intelligenz dominiert. Insbesondere die ethischen und moralischen Aspekte der nicht unabsichtlich so genannten „Schöpfung“ eines eigenständigen Bewusstseins. Deswegen ist Frankenstein vor allem ein Roman über die Konsequenzen, die wir angucken müssen, wenn wir über die Entwicklung einer KI reden.
Als erstes werde ich gleich die einleitenden Worte von Mary Shelley selbst zitieren, die auch in einzelnen Punkten schon relativ aufschlussreich sind, und danach geht es dann los mit den Auszügen aus dem Roman.
Kurz zur Einordnung. Der Roman gliedert sich in verschiedene Rahmenerzählungen ein und ist relativ verschachtelt. Es beginnt damit, dass wir die Briefe eines Kapitäns lesen, die er an seine Schwester schreibt, während er auf dem Weg ist ins ewige Eis. Dort trifft er tatsächlich auf Frankenstein, beziehungsweise zunächst auf einen unbekannten Mann, der sich ihm als Frankenstein vorstellt und ihm seine Lebensgeschichte erzählt. Die späteren Kapitel sind dann gewissermaßen die Erzählung Frankensteins, die der Kapitän aufschreibt und seiner Schwester per Brief zukommen lässt. Innerhalb der Erzählung Frankensteins gibt es dann auch wieder noch andere Erzählu ngen, es ist also relativ verschachtelt. Es gibt auf jeden Fall viel zu entdecken, wenn man dieses Buch liest. Also, lesen wir doch mal rein!
Einführung
Die Herausgeber der »Meisternovellen« haben mich vor Veröffentlichung meines »Frankenstein« gebeten, ihnen einiges über dessen Entstehung zu berichten. Ich entspreche diesem Wunsche um so lieber, als mir dadurch Gelegenheit geboten ist, allgemein die so häufig an mich gerichtete Frage zu beantworten, wie ich als Frau dazukäme, einen so entsetzlichen Stoff zu erdenken und zu bearbeiten. Ich stelle mich ja allerdings nicht gern in den Vordergrund; aber da diese Erklärung mehr oder minder nur ein Anhang zu meinem Werke ist und ich mich nur auf das beschränken werde, was unbedingt mit meiner Autorschaft zusammenhängt, kann man mir kaum persönliche Eitelkeit zum Vorwurf machen.
Es ist meines Erachtens nichts Außerordentliches, daß ich, als Kind zweier literarischen Berühmtheiten, ziemlich früh im Leben am Schreiben Gefallen fand. Schon als ganz kleines Mädchen wußte ich mir keinen besseren Zeitvertreib als das »Geschichtenschreiben«. Bis ich allerdings noch ein schöneres Vergnügen fand, das Bauen von Luftschlössern, das Versenken in Wachträume, das Verfolgen von Gedankenreihen, die sich aus erfundenen Ereignissen ergaben. Meine Träume waren auf alle Fälle schöner und phantastischer als das, was ich niederschrieb. Denn beim Schreiben folgte ich mehr den Spuren anderer, als daß ich meine eigenen Gedanken wiedergab. Ich machte mich selbst nie zur Heldin meiner Erzählungen. Denn das Leben erschien mir in Bezug auf mich selbst als nichts Romantisches und ich konnte mir nicht vorstellen, daß außergewöhnliche Leiden oder merkwürdige Ereignisse in meinem Dasein eine Rolle spielen sollten. Und so konnte ich in meiner Phantasie Geschöpfe entstehen lassen, die mir damals weit interessanter waren als meine eigenen Gefühle.
Dann aber wurde mein Leben ereignisreicher und die Wahrheit trat an die Stelle der Dichtung. Allerdings war mein Mann ängstlich darauf bedacht, daß ich meiner literarischen Abstammung Ehre mache und selbst zu einer Berühmtheit werde. Er erregte in mir den Wunsch, einen literarischen Ruf zu erringen; ein Ziel, gegen das ich heute vollkommen gleichgültig geworden bin.
Im Sommer 1816 bereisten wir die Schweiz und ließen uns in der Nähe Lord Byrons nieder. Wir verbrachten mit ihm herrliche Stunden auf dem See oder an dessen Ufern. Der einzige unter uns, der seine Gedanken schriftlich niederlegte, war Lord Byron. Er hatte eben den dritten Gesang seines »Childe Harold« in Arbeit. Diese Verse, die er uns nach und nach zu Gehör brachte, schienen uns ein Ausfluß all der uns umgebenden Naturschönheit, verklärt durch den Glanz und den Wohllaut seiner Kunst.
Ein feuchter, unfreundlicher Sommer fesselte uns viel ans Haus. Da fielen uns gelegentlich einige Bände deutscher Gespenstergeschichten in die Hände.
»Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben,« schlug da Lord Byron vor, und alle stimmten wir diesem Vorschlage bei. Wir waren unser Drei. Der Urheber des Gedankens begann eine Geschichte, von der er ein Fragment am Schlusse seines »Mazeppa« verwendete. Shelley, der es besser verstand, Gedanken und Gefühle in die schönsten, glänzendsten Verse zu bringen, die unsere Sprache kennt, als eine Geschichte zu erfinden, erzählte ein Jugenderlebnis.
Ich selbst gab mir Mühe, eine Geschichte zu erdenken, die es mit den von uns gelesenen aufnehmen könne. Eine Geschichte, die das tiefste Entsetzen im Leser hervorrufen, das Blut stocken und das Herz heftiger klopfen lassen sollte.
Oft und lange diskutierten Lord Byron und Shelley, während ich als bescheidene aber aufmerksame Zuhörerin dabei saß. Eine der philosophischen Hauptfragen, die diskutiert wurden, war die nach dem Ursprünge des Lebens und ob es je möglich sei, ihm auf den Grund zu kommen. Man besprach die Experimente Darwins. Es handelt sich für mich nicht darum, daß der Gelehrte diese Experimente wirklich vornahm, sondern um das, was darüber gesprochen wurde. Darwin hatte in einer Glasdose ein Stückchen Maccaroni aufbewahrt, das dann aus irgend welchen Ursachen willkürliche Bewegungen zu machen schien. Jedenfalls glaubte ich nicht, daß auf diesem Wege Leben erzeugt werden könne. Aber vielleicht wäre es denkbar, einen Leichnam wieder zu beleben, was ja auf galvanischem Wege bereits geschehen ist, oder die Bestandteile eines Lebewesens zusammenzufügen und ihm lebendigen Odem einzuhauchen.
Unter diesen Gesprächen wurde es tiefe Nacht. Als ich mein Haupt auf die Kissen bettete, konnte ich nicht einschlafen; ein halbschlummerndes Nachsinnen bemächtigte sich meiner. Phantastische Bilder tauchten ungebeten vor mir auf und erreichten einen selten hohen Grad von Lebendigkeit. Ich sah mit geschlossenen Augen den bleichen Jünger der schrecklichen Wissenschaft vor dem Dinge knieen, das er geschaffen. Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig regen. Furchtbar müßte es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der Erfolg müßte den Künstler aufs tiefste erschrecken, so daß er entsetzt der Stätte seiner Arbeit entflieht. Er müßte hoffen, daß der schwache Lebensfunke, den er entzündet, sich selbst überlassen, wieder erlösche; daß das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht, wieder in die Materie zurücksinke; und er müßte einschlafen in dem Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse über dem häßlichen Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte. Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksamen Augen.
Auch ich öffnete erschreckt die Lider. Die Idee hatte mich derart gefangen genommen, daß es mich eiskalt überlief und ich vergebens mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Ich erinnere mich noch heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner Täfelung, auf der sich durch die geschlossenen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich wußte, daß draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines Phantasiegebildes nicht ledig werden. Ich mußte versuchen an Anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenstergeschichte ein, meine unglückselige Gespenstergeschichte! Oh könnte ich doch eine erfinden, die meine Leser ebenso erschüttern würde wie mich das Gesicht jener Nacht!
Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich erschreckte, soll auch andere erschrecken. Ich habe nur den unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.
Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben. Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter ausgesponnen habe. Und nun, du unheimliches Kind meiner Muse, gehe hinaus und wirb dir Freunde!
London, 15. Oktober 1831.
[Wir begeben uns jetzt gedanklich an Bord des Schiffes, auf dem der Kapitän den kranken Frankenstein vom Eis gepflückt und gepflegt hatte.]
Auszug aus dem vierten Brief
5. August 18..
[…]
Als mein Gast einigermaßen wieder gesund war, hatte ich große Mühe, meine Leute zu verhindern, daß sie ihn mit allen möglichen Fragen belästigten. Ich konnte es doch nicht gestatten, daß durch ihre müßige Neugierde die geistige und körperliche Genesung des Fremden, die offenbar nur durch ungestörteste Ruhe bewirkt werden konnte, aufgehalten werden sollte. Einmal jedoch gelang es meinem Leutnant dennoch, die Frage an ihn zu richten, wo er denn in seinem seltsamen Vehikel so weit über das Eis herkäme.
Ein Schatten tiefster Betrübnis huschte über sein Gesicht, dann sagte er: »Um einen zu suchen, der mich floh.«
»Und reiste der Mann, den Sie suchten, in derselben Weise, wie Sie?«
»Ja.«
»Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen. Denn am Tage, ehe wir Sie fanden, sahen wir einen Mann auf einem von Hunden gezogenen Schlitten über das Eis hinwegfahren.«
Dies erregte die Aufmerksamkeit des Fremden und er stellte eine Reihe dringender Fragen, die sich darauf bezogen, welche Richtung der Dämon – so nannte er den anderen – genommen habe. Als er kurz nachher mit mir allein war, sagte er: »Ich habe ohne Zweifel Ihre Neugierde erregt, ebenso wie die dieser guten Leute, aber Sie selbst sind ja zu rücksichtsvoll, um mich auszufragen.«
»Gewiß; ich würde es für aufdringlich und unmenschlich halten, Sie mit irgendwelchen Fragen zu belästigen.«
»Und das, trotzdem Sie mich aus einer seltsamen, verzweifelten Situation gerettet und mich zum Leben zurückgebracht haben!«
Einige Zeit danach fragte er mich, ob ich glaube, daß der Eisgang den Schlitten des »Anderen« zerstört habe. Ich antwortete ihm, daß ich hierüber mit Bestimmtheit nichts aussagen könne, denn der Eisgang habe erst gegen Mitternacht eingesetzt und der Reisende könne bis dahin recht wohl sich in Sicherheit gebracht haben.
Seit dieser Auskunft schien neuer Lebensmut den gebrechlichen Körper des Fremden zu durchströmen. Er wollte absolut an Deck bleiben, um nach dem Schlitten auszuspähen, von dem wir ihm gesprochen hatten. Aber ich habe ihn überredet, sich in der Kabine aufzuhalten, da er für die rauhe Temperatur da oben doch noch nicht stark genug sei. Ich habe ihm aber versprochen, daß jemand an seiner Stelle Ausschau halten und ihn sofort benachrichtigen werde, wenn sich irgend etwas sehen lassen sollte.
[…]
19. August 18..
Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie haben sicherlich erkannt, Kapitän Walton, daß mich großes, unsagbares Leid betroffen hat. Ich hatte schon beschlossen, daß die Erinnerung daran mit mir ins Grab steigen solle; aber Sie haben mich so weit gebracht, daß ich meinem Entschluß untreu geworden bin. Sie suchen, wie ich einst, nach Wissen und Weisheit und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß dieses Streben Ihnen nicht, wie mir, zum fürchterlichsten Fluche werde. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Erzählung meiner Leiden von Nutzen sein wird; wenn ich aber bedenke, daß Sie denselben Weg gehen wie ich, sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem machten, was ich jetzt bin, so kommt mir die Überzeugung, daß Sie aus meiner Erzählung doch eine Moral zu ziehen vermögen; eine Moral für den Fall, daß Sie Erfolg mit Ihren Bestrebungen haben, wie auch für den Fall, daß Sie enttäuscht werden. Bereiten Sie sich darauf vor Dinge zu hören, die Sie als unglaublich bezeichnen möchten. Wären wir in kultivierteren Zonen der Erde, ich würde mich besinnen zu erzählen, weil ich fürchten müßte, daß Sie mir nicht glauben oder mich gar verlachen könnten; aber in diesen wilden, geheimnisvollen Regionen wird Ihnen manches möglich erscheinen, was solche, die mit den immer wechselnden Kräften der Natur nicht vertraut sind, zum Spotte reizen würde.« – Du kannst Dir denken, daß ich dankbar und erfreut das Angebot annahm, wenn ich mir auch sagen mußte, daß durch die Erzählung sein Leid wieder lebendiger, die Wunden nur wieder aufgerissen würden. Ich war ungeheuer gespannt auf das, was ich hören sollte, teils aus wirklicher Neugierde, teilweise aber auch, weil ich hoffte, vielleicht dadurch einen Fingerzeig zu bekommen, wie ich, wenn es überhaupt möglich wäre, ihm helfen könnte.
»Ich danke Ihnen,« sagte er, »für Ihre Teilnahme, aber sie ist unnütz; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur eines ab; wenn dies eintrifft, werde ich zur Ruhe gehen. Ich verstehe Ihre Gefühle,« fuhr er fort, nachdem ich vergebens versucht hatte, ihn zu unterbrechen, »aber Sie sind im Irrtum, mein Freund – wenn ich mir erlauben darf Sie so zu nennen – wenn Sie meinen, irgend etwas wäre imstande, mein Geschick zu ändern. Hören Sie erst meine Geschichte und Sie werden verstehen, wie unabänderlich es feststeht.«
Er sagte mir noch, daß er am nächsten Tage mit seiner Erzählung beginnen wolle, wenn es meine Zeit erlaube. Dieses Versprechen verpflichtete mich zu aufrichtigem Danke. Ich habe beschlossen, immer nachts, wenn mich nicht gerade mein Dienst abhält, möglichst wörtlich alles niederzuschreiben, was ich am Tage erfahren haben werde. Zum mindesten aber werde ich mir kurze Notizen machen. Diese Aufzeichnungen werden Dir sicher interessant sein, und mit welcher Teilnahme werde erst ich, der ich doch alles von seinen eigenen Lippen höre, in späteren Zeiten die Zeilen lesen. Während ich daran denke, wie ich meiner Aufgabe gerecht werden soll, tönt in meinen Ohren noch seine volle, melodische Stimme; ich sehe seine warmen, melancholischen Augen auf mir ruhen, seine feinen, schmalen Hände sich lebhaft bewegen, während sich in den Zügen seines Antlitzes seine Seele widerspiegelt. Seltsam und schrecklich muß seine Geschichte, furchtbar der Sturm gewesen sein, der das schöne Lebensschiff zerbrach.
[Wir gehen jetzt über in die von Frankenstein erzählte Geschichte, die von Kapitän Walton niedergeschrieben wird]
Drittes Kapitel
Als ich siebzehn Jahre alt geworden war entschlossen sich meine Eltern, mich auf die Universität Ingolstadt zu schicken. Ich wäre ganz gern auf der Genfer Hochschule geblieben, aber mein Vater hielt es für nützlicher, wenn ich, um meine Erziehung zu vollenden, auch mit den Sitten und Gebräuchen anderer Länder vertraut würde.
[…]
Ich lehnte mich tief im Wagen zurück, der mit mir dahinrollte, und gab mich trübseligen Betrachtungen hin. Ich war nun allein! Auf der Universität mußte ich mir erst Freunde suchen und für mich selbst sorgen. Mein Leben war bisher ein außergewöhnlich zurückgezogenes gewesen und daher mochte es wohl kommen, daß ich einen fast unbezwinglichen Abscheu vor allen neuen Gesichtern hatte. Ich liebte meinen Bruder, ich liebte Elisabeth und Clerval; das waren mir altbekannte, liebe Gesichter; aber ich hielt mich für total ungeeignet, mit Fremden Bekanntschaften anzuknüpfen. Das waren also meine Betrachtungen zu Anfang meiner Reise, aber je weiter ich mich von der Heimat entfernte, desto mehr wuchsen mir Mut und Hoffnung. Ich war von brennendem Lerneifer erfüllt. Ich hatte oft, als ich noch zu Hause war, es bitter beklagt, an diesen kleinen Erdenfleck gekettet zu sein, und gewünscht, die weite Welt zu sehen und den mir gebührenden Platz innerhalb der Menschheit einzunehmen. Nun, da diese Wünsche in Erfüllung gehen sollten, wäre es töricht gewesen, Reue zu empfinden.
Für diese und andere Betrachtungen fand ich auf der langen und ermüdenden Reise nach Ingolstadt hinreichend Muße. Endlich erblickte ich die Kirchturmspitzen der Stadt. Ich stieg an meinem Quartier ab und wurde nach meinem einsamen Zimmer geführt, um dort den Abend nach meinem Gutdünken zu verbringen. Am nächsten Morgen machte ich den hervorragendsten Professoren Besuch und gab meine Empfehlungsbriefe ab. Der Zufall, oder vielleicht auch der Dämon der Vernichtung, der mich umschwebte, seit ich mit zögerndem Schritt aus dem Vaterhause in die Welt getreten war, führte mich zuerst zu dem Dozenten der Naturphilosophie, namens Krempe. Er war ein wunderlicher Mensch, aber unerreicht in seinem Fach. Er stellte mir mehrere Fragen aus verschiedenen Gebieten der Naturphilosophie, um zu sehen, was von mir zu erwarten sei. Ich antwortete freimütig und erwähnte dabei halb verächtlich die Namen der Alchymisten, deren Werke ich zuerst studiert hatte. Der Professor war sehr erstaunt, dann sagte er: »Haben Sie wirklich Ihre Zeit mit diesem Unsinn vertan?«
Ich bejahte. »Jede Minute,« fuhr Herr Krempe ernst fort, »jeder Augenblick, den Sie sich mit jenen Büchern beschäftigt haben, ist unwiederbringlich und für immer verloren. Sie haben Ihr Gedächtnis mit veralteten Systemen und zwecklosen Dingen belastet. In welchem verlassenen Lande haben Sie denn um Gotteswillen gelebt, daß niemand Sie aufmerksam gemacht hat, daß diese Phantasien, mit denen Sie begierig Ihr Hirn vollpfropften, schon tausend Jahre alt und ganz verschimmelt sind? Ich muß gestehen, daß ich in unserm aufgeklärten Jahrhundert nicht erwartet hätte, noch auf einen Jünger des Albertus Magnus und des Paracelsus zu stoßen. Mein lieber, junger Freund, Sie müssen mit Ihren Studien ganz von vorn beginnen.«
Er trat dann an sein Schreibpult und notierte mir eine Reihe von Büchern, die ich mir beschaffen sollte. Dann entließ er mich, nachdem er mich aufmerksam gemacht hatte, daß er vom Beginn der nächsten Woche ab ein Kolleg über Naturphilosophie, und sein Freund, Herr Waldmann, abwechselnd mit ihm ein solches über Chemie lesen werde.
Ich kehrte nach meiner Wohnung zurück, keineswegs enttäuscht, denn auch ich hatte schon seit langer Zeit, wie ich Ihnen schon sagte, die Wertlosigkeit jener Bücher erkannt, die der Professor verdammte. Aber ich hatte mir vorgenommen, trotzdem zu diesen Studien in irgend einer Weise zurückzukehren. Herr Krempe war ein kleiner, untersetzter Mensch mit barscher Stimme und abstoßendem Gesicht. Der Lehrer hatte also nichts an sich, was mich für seine Wissenschaft von vornherein hätte einnehmen können. Als ganz junger Mensch war ich mit den von den Lehrern der Naturwissenschaften erreichten Resultaten niemals zufrieden gewesen. Die Verworrenheit meiner Ideen, die ja wohl meiner großen Jugend zuzuschreiben war, und der Mangel eines geeigneten Führers, brachten mich soweit, daß ich, rückwärts schreitend, die Ergebnisse moderner Forschung gegen die Träume vergessener Alchymisten eintauschte. Sogar eine gewisse Verachtung empfand ich gegen die moderne Naturphilosophie. Es war doch etwas ganz anderes, wenn die alten Meister Unsterblichkeit und Macht anstrebten. Wenn dieses Streben auch unnütz war, so hatte es doch etwas Großzügiges an sich. Aber das heutige Bild war ein anderes. Die Forscher schienen ihren besonderen Ehrgeiz darein zu setzen, all die Fundamente zu vernichten, auf denen jene gebaut hatten. Es handelte sich für mich also darum, Chimären von grenzenloser Großartigkeit gegen winzige Realitäten zu vertauschen.
Das waren meine Überlegungen während der ersten zwei oder drei Tage meiner Anwesenheit in Ingolstadt, die ich hauptsächlich dazu verwendet hatte, um mir einige Ortskenntnisse zu erwerben. Zu Beginn der nächsten Woche fielen mir dann die Weisungen ein, die mir Professor Krempe bezüglich der Vorlesungen gegeben hatte. Und wenn ich mich auch nicht entschließen konnte hinzugehen und diesen kleinen, eingebildeten Menschen von seinem Katheder herab Weisheiten verkünden zu hören, so erinnerte ich mich doch dessen, was er von Professor Waldmann gesagt hatte, den ich noch nicht kannte, weil er bis jetzt auf dem Lande gewesen war.
Teilweise aus Neugierde, teilweise aus Langweile ging ich in den Hörsaal, den Professor Waldmann gleich nach mir betrat. Dieser Herr unterschied sich wesentlich von seinem Kollegen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und machte einen außerordentlich wohlwollenden Eindruck. Sein Haar war fast schwarz, nur an den Schläfen war es schon leicht ergraut. Er war von kleiner Statur, hielt sich aber sehr gerade und seine Stimme besaß einen seltenen Wohllaut. Er begann sein Kolleg mit einer Rekapitulation der Geschichte der Chemie und ihre Entwickelung, indem er mit Feuer von den berühmtesten Entdeckern sprach. Dann kam er auf den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft zu sprechen und machte uns mit der Terminologie bekannt. Nachdem er einige einführende Experimente gemacht, hielt er einen Panegyricus auf die moderne Chemie in Worten, die ich nimmermehr vergessen werde:
»Die Alten versprachen Unmögliches und leisteten nichts. Die heutigen Gelehrten versprechen nichts; sie wissen, daß die Metalle nicht ineinander verwandelt werden können und daß das Lebenselixir eine Chimäre ist. Aber diese Philosophen, deren Hände dazu geschaffen scheinen, im Schmutze zu graben, und deren Augen über den Schmelztiegeln und Mikroskopen trüb werden, haben wahre Wunder vollbracht. Sie gehen der Natur bis in ihre Schlupfwinkel nach und beobachten sie in ihrer geheimsten Tätigkeit. Sie steigen bis in den Himmel. Sie haben den Kreislauf des Blutes entdeckt und die Natur der Luft, die wir atmen, dargelegt. Sie haben neue, fast unbegrenzte Kräfte entfesselt. Wir haben dem Himmel seine Blitze entrissen und machen uns über die unsichtbare Welt mit ihren Schatten lustig.«
Das waren die Worte des Professors – und des Schicksals, das es auf meine Vernichtung abgesehen hatte. Als er wegging, war es mir, als ringe meine Seele mit einem körperlichen Feinde. Alle Register meines Seins wurden gezogen, Saite auf Saite meines Inneren ertönte und ein Gedanke, ein Wunsch, ein Ziel nahm mich gefangen. So viel bis jetzt auch geschehen sein mag – hörte ich die Seele Frankensteins rufen – viel, viel mehr will ich noch vollenden. Als Pionier will ich neue, unbekannte Kräfte entdecken und vor der Welt die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung ausbreiten.
In dieser Nacht schloß ich kein Auge. Mein Inneres war in einem Zustande des Aufruhrs und Tumultes. Ich fühlte, daß das wieder gut würde, aber es war mir so rasch nicht möglich mich zu beruhigen. Allmählich, gegen Morgen, vermochte ich dann einzuschlafen. Als ich erwachte waren meine Gedanken von gestern wie ein Traum. Aber die Idee blieb fest haften, daß ich mich wieder meinen alten Studien zuwenden und mich einer Wissenschaft widmen wollte, zu der ich natürliche Anlagen hatte. Am gleichen Tage noch stattete ich Professor Waldmann einen Besuch ab. Er war als Privatmann, wenn möglich, noch zuvorkommender und gewinnender wie in seinem Berufe. Denn während seiner Vorlesungen nahm er eine sehr würdevolle Haltung an, die aber in seinem Heim einer außerordentlichen Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit Platz machte. Ich gab ihm fast denselben Bericht über meine frühere Beschäftigung wie seinem Kollegen. Er hörte aufmerksam meiner Erzählung zu und lächelte, als er die Namen Cornelius Agrippa und Paracelsus vernahm, aber ohne sie so verächtlich zu machen, wie es Krempe getan hatte. Er meinte, daß diesen unermüdlich fleißigen Forschern die modernen Gelehrten viel zu danken hätten. Sie hätten uns die leichtere Aufgabe hinterlassen, den Dingen Namen zu geben, die sie mit größter Mühe erforscht. Die Arbeit eines Genies sei, wenn sie auch momentan auf irrigen Voraussetzungen beruhe, niemals ohne Nutzen für das Menschengeschlecht. Ich lauschte mit hohem Interesse diesen Ansichten, die so ganz ohne Anmaßung und Ziererei ausgesprochen wurden. Ich versäumte nicht zu gestehen, daß seine Vorlesung mein Vorurteil gegen die moderne Chemie behoben habe. Es ist selbstverständlich, daß ich mich der Bescheidenheit in meinen Ausdrücken befleißigte, die dem Schüler seinem Lehrer gegenüber zusteht, ohne aber den Enthusiasmus zu verhehlen, den ich meinen kommenden Studien entgegenbrachte. Ich bat ihn noch um Ratschläge betreffs der zu beschaffenden Bücher, worauf er sagte:
»Ich freue mich, Sie als Schüler gewonnen zu haben. Wenn Ihr Fleiß Ihren Fähigkeiten gleichkommt, zweifle ich nicht an Ihrem Erfolge. Chemie ist der Zweig der Naturwissenschaft, aus dem das Meiste geholt worden ist und noch geholt werden wird. Darum habe ich sie als mein Spezialfach erwählt, ohne aber die anderen Wissenschaften zu vernachlässigen. Ein Mensch würde nur eine sehr traurige Rolle spielen, wenn er sich ganz einseitig auf Chemie verlegen wollte. Wenn Sie wirklich ein Wissenschaftler werden und nicht bloß ein armseliger Experimentator werden wollen, kann ich Ihnen nur empfehlen, sich mit sämtlichen Zweigen der Naturphilosophie zu beschäftigen, einschließlich der Mathematik.«
Er nahm mich dann mit in sein Laboratorium und führte mir seine verschiedenen Apparate vor. Er zeigte mir auch ihre Handhabung und versprach mir, daß ich sie selbst bedienen dürfte, wenn ich einmal so weit vorgeschritten sei, daß ich nichts daran beschädigte. Er gab mir dann noch ein Verzeichnis der von ihm empfohlenen Bücher und entließ mich.
So endete ein für mich denkwürdiger Tag: er entschied über mein ganzes künftiges Schicksal.
Viertes Kapitel
Von diesem Tage ab wurde die Naturphilosophie und besonders die Chemie meine ausschließliche Beschäftigung. Ich las mit Leidenschaft die genialen, klaren Werke moderner Forscher. Ich besuchte fleißig die Vorlesungen und blieb in ständiger persönlicher Verbindung mit meinen Lehrern.
[…]
Zwei Jahre verbrachte ich in dieser Weise, ohne Genf zu besuchen; ich war mit Leib und Seele bei meinen Erfindungsplänen. Nur wer es an sich selbst erfahren, kann sich einen Begriff machen von den Wonnen, die die Wissenschaft zu bieten hat. In anderen Wissenszweigen kommt man nur so weit, als eben andere vor uns gekommen sind, und mehr ist nicht zu erfahren. Aber hier gibt es immer Nahrung für Bewunderung und Forschung.
[…]
Eines der Phänomene, das meine Aufmerksamkeit in besonderem Maße erregte, war der Bau des menschlichen Körpers, überhaupt aller mit Leben begabten Wesen. Woher, fragte ich mich oftmals, kommt das Leben? Es war eine kühne Frage, eine von denen, auf die es keine Antwort gab. Und wie manchen Dingen vermöchten wir nicht auf die Spur zu kommen, wenn nicht Feigheit und Unbesonnenheit die Früchte der Studien wieder vernichtete? Von diesem Standpunkte ausgehend entschloß ich mich, mich fernerhin speziell mit den Doktrinen zu beschäftigen, die mit der Physiologie im Zusammenhange stehen. Hätte mich nicht ein mehr als natürlicher Eifer beseelt, wäre mir dieser Teil meiner Studien zu beschwerlich, überhaupt unerträglich gewesen. Um die Ursachen des Lebens zu entdecken müssen wir zuerst wissen, was der Tod ist. Ich machte mich an die Anatomie, aber das war noch nicht genügend; es handelte sich auch noch darum, die natürliche Zerstörung, den Verfall des menschlichen Körpers zu studieren. Bei meiner Erziehung war großer Wert darauf gelegt worden, daß ich nicht durch Schauermärchen ängstlich gemacht wurde. Deshalb kann ich mich auch nicht erinnern, bei irgend einer Gespenstergeschichte gezittert oder mich vor dem Erscheinen eines Geistes gefürchtet zu haben. Die Dunkelheit war mir nicht, wie vielen anderen, die Quelle des Schreckens, und Kirchhöfe waren für mich nichts anderes als Orte, an denen man die ihres Lebens beraubten Körper bringt, die, bisher mit Schönheit und Kraft begabt, nunmehr zum Würmerfraß geworden waren. Nun, da ich mir vorgenommen hatte, die Ursachen und Erscheinungen dieses Verfalles zu studieren, mußte ich ganze Tage und Nächte in Grabgewölben und Beinhäusern verbringen. Meine Aufmerksamkeit richtete sich besonders auf diejenigen Dinge, die sonst dem menschlichen Feingefühl am meisten widerstreben müssen. Ich sah zu, wie die schönen Formen des Leibes verfielen und vernichtet wurden, wie die Greuel des Todes die blühende Pracht des Lebens ablöste, wie die Würmer sich der wundervollen Gebilde bemächtigten, wie sie Auge und Gehirn darstellen. Ich analysierte und prüfte den Übergang vom Leben zum Tode und wiederum vom Tode zum Leben, bis mir mitten in all der Ungewißheit ein Licht aufblitzte, so glänzend und wunderbar und doch so einfach, daß ich, ganz geblendet von dem Anblick, der sich vor mir auftat, zugleich überrascht war, daß unter den vielen genialen Köpfen, die sich mit derselben Wissenschaft beschäftigt hatten, keiner auf das Geheimnis gekommen war, das zu entdecken jetzt mir vergönnt war.
Ich bitte Sie, sich immer vor Augen zu halten, daß es nicht Visionen eines Irren sind, die ich Ihnen berichte. Wenn das, was ich Ihnen nun erzähle, nicht wahr ist, dann gibt es keine Sonne am Himmel. Ein Zufall mag mir ja zu Hilfe gekommen sein, aber die einzelnen Phasen der Entdeckung lagen klar und unzweideutig vor mir. Nach Tagen und Nächten der unglaublichsten Mühen und Anstrengungen war ich den Ursachen des Werdens und des Lebens auf die Spur gekommen, und, mehr noch als das, ich war selbst imstande, toten Dingen Leben einzuflößen.
An die Stelle des Erstaunens, der Überraschung, trat bald eine rasende Freude. Das war der schönste Lohn meiner Arbeit, daß ich mich nun am Ziele meiner sehnlichsten Wünsche befand. Aber so groß und überwältigend war meine Entdeckung, daß alle Schritte, die sie vorbereitet hatten, wie aus meinem Gedächtnis gelöscht waren und ich nur mehr das Resultat erblickte. Was war nun Fleiß und Arbeit der weisesten Männer wert, da ich den Schlüssel der Schöpfung in Händen hielt?
Ich sehe an Ihrer Erregung, an Ihren erstaunten und zugleich erwartungsvollen Blicken, mein Freund, daß Sie hoffen, von mir in das Geheimnis eingeweiht zu werden. Aber das kann ich nicht. Warten Sie geduldig das Ende meiner Geschichte ab und Sie werden begreifen, warum ich mir da Zurückhaltung auferlegen muß. Ich will nicht, daß Sie, wissensdurstig wie einst ich, in Ihre eigene Vernichtung, in Ihr Elend rennen. Erkennen Sie an mir, an meinem Beispiel, wie gefährlich es ist, sich wissend zu machen, und wie viel glücklicher ein Mensch ist, dem seine Heimatstadt seine Welt bedeutet, der nicht größer sein will, als seine Natur es ihm erlaubt.
Nachdem ich mir dieser ungeheuren Macht bewußt geworden war, zögerte ich noch einige Zeit mit der Anwendung, da ich mir noch nicht klar war, in welcher Weise diese erfolgen sollte. Wenn ich auch die Fähigkeit besaß, Leben zu verleihen, so stand mir doch zunächst die ungeheuer schwierige Aufgabe bevor, einen Leib zu schaffen mit all seinen Muskeln, Sehnen und seinem Geflecht von Adern und Nerven. Ich war mir anfänglich im Zweifel darüber, ob ich gleich ein Wesen schaffen sollte, das mir gleich war, oder ob ich mich zuerst mit einem einfacheren Organismus begnügen sollte. Aber ich war durch meine Entdeckung dermaßen kühn geworden, daß ich nicht einsah, warum mir nicht sofort die Herstellung eines Wesens gelingen sollte, das so kompliziert und wundervoll ist wie der Mensch. Das mir zur Verfügung stehende Material schien allerdings noch kaum genügend für die schwierige Aufgabe, aber ich zweifelte keinen Augenblick, daß ich doch schließlich Erfolg haben müßte. Ich bereitete mich auch auf alle Eventualitäten vor; meine Bemühungen konnten unter Umständen immer wieder vereitelt werden, mein Werk unvollendet bleiben. Und wenn auch im Hinblick auf die Bedeutung jedes einzelnen Tages für die technischen Erfindungen durfte ich doch hoffen, daß mir endlich der Lorbeer des Sieges zuteil würde. Die Größe und Kompliziertheit meines Unternehmens war mir noch lange kein Beweis für seine Undurchführbarkeit. Mit diesen Gefühlen machte ich mich dann endlich an die Erschaffung des menschlichen Wesens. Da die Feinheit der einzelnen Teile lange Zeit zu ihrer Nachbildung erfordert hätte, beschloß ich, entgegen meiner ursprünglichen Absicht, dem Wesen eine gigantische Statur zu geben. Das heißt, ich wollte ihm eine Größe von acht Fuß geben. Es dauerte noch einige Monate, bis ich alles Nötige beisammen hatte und beginnen konnte.
Es ist unmöglich die Gefühle zu schildern, die mich wie ein Sturmwind durchbrausten. Leben und Tod erschienen mir zwei Schranken, die ich durchbrechen und einen Strom von Licht über die finstere Welt gießen durfte. Eine neue Art von Menschenwesen würden mich als ihren Schöpfer preisen und manches Gute und Edle sollte seinen Ursprung mir zu verdanken haben. Kein Vater sollte der Dankbarkeit seiner Kinder so wert sein wie ich. Damals kam ich auf die Idee, die ich allerdings dann später als durchaus undurchführbar erkannte, daß es mir, der ich imstande war, leblose Materie lebend zu machen, möglich sein müßte, auch da wieder Leben zu erzeugen, wo der Tod bereits zerstörend eingegriffen hatte.
Diese Gedanken waren es, die mir immer wieder Kraft zu meinem Unternehmen verliehen. Meine Wangen waren bleich geworden und mein Körper der Erschöpfung nahe. Manchmal meinte ich, ganz nahe an meinem Ziele verzagen zu müssen. Aber ich klammerte mich an die Hoffnung, daß die nächsten Tage, die nächsten Stunden schon eine Entscheidung bringen würden. Die Freude meines Lebens war das Geheimnis, von dem nur ich allein wußte, und oftmals leuchtete mir der Mond bei meinen mitternächtlichen Arbeiten, die mich bis an die verstecktesten Winkel des Naturschaffens führen sollten. Ich unterlasse es, Ihnen die Greuel meines einsamen Schaffens zu schildern, wie ich im Unrat von Gräbern wühlte und lebende Wesen zu Tode quälte, um toten Staub zu beleben. Heute zittern meine Knie und es flimmert vor meinen Augen, wenn ich an das alles denke. Aber damals trieb es mich rastlos, rücksichtslos weiter, so daß ich jeden Sinn für anderes verlor. In einem stillen, abgelegenen Zimmer, oder besser gesagt einer Kammer unter dem Dache, von allen übrigen Räumen durch eine Galerie und eine Treppe getrennt, vollbrachte ich mein ekelerregendes Werk. Die Augen traten mir aus den Höhlen vor Erregung und Anspannung. Die Beinhäuser, der Seziersaal und auch die Schlächterwerkstatt lieferten mir mein Material, und oft wandte sich mein Inneres voll Abscheu von dieser Beschäftigung ab, während meine Schöpfung immer mehr ihrer Vollendung entgegeneilte.
Unterdessen waren die Sommermonate dahingeflossen. Es war eine herrliche Zeit gewesen und niemals noch hatten die Felder so reich gesegnet dagestanden. Aber meine Augen waren für solche Reize zu jener Zeit völlig unzugänglich. Und aus demselben Grunde, weshalb ich keine Freude an der Natur mehr hatte, vergaß ich auch der treuen, lieben Menschen, von denen ich so weit entfernt war und die ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Ich wußte, daß sie mein Schweigen beunruhigen mußte und erinnerte mich noch recht wohl der Worte meines Vaters: »Wenn du mit dir selbst zufrieden bist, wirst du auch unser in Liebe gedenken und wir werden regelmäßig von dir hören. Du darfst es mir nicht verübeln, wenn ich langes Schweigen deinerseits als einen Beweis dafür ansehe, daß du deine anderen Pflichten in gleicher Weise vernachlässigst.«
Ich konnte mir also gar nicht im Zweifel darüber sein, was mein Vater von mir denken mußte; aber mein Werk hatte mich, so widerlich es an sich war, dermaßen gepackt, daß ich mich nicht mehr losreißen konnte. Ich wollte deshalb alles, was mit Aufmerksamkeit für andere zusammenhing, hinausschieben, bis der große Wurf gelungen wäre.
Ich zieh meinen Vater damals der Ungerechtigkeit, daß er mir Nachlässigkeit vorwarf; aber heute weiß ich gewiß, daß er recht hatte, wenn er mich nicht von Schuld freisprach. Ein vollkommener Mensch muß sich immer die Seele ruhig und friedvoll erhalten und darf keiner Leidenschaft auch keinem vorübergehenden Begehren gestatten, ihn zu verwirren. Ich wage nicht zu behaupten, daß wissenschaftlicher Eifer eine Ausnahme bedinge. Wenn das Studium, dem man sich widmet, die Gefühle der Liebe und Dankbarkeit vernichtet und den Sinn für einfache Freuden tötet, dann ist es sicher nicht nützlich für den menschlichen Geist. Wenn diese Regel immer beachtet worden wäre, dann wäre Griechenland nicht unterjocht worden, Cäsar hätte sein Vaterland verschont und die alten, mächtigen Reiche in Mexiko und Peru wären nicht untergegangen.
Aber eben merke ich, daß ich mitten im interessantesten Teil meiner Erzählung zu philosophieren beginne. Ihre Augen mahnen mich fortzufahren.
Mein Vater machte mir in seinen Briefen keine Vorwürfe wegen meines Schweigens und bekundete nur dadurch sein Interesse daran, daß er sich eingehender als bisher um meine Studien kümmerte. Winter, Frühling und Sommer waren über meiner Arbeit dahingeflossen; aber ich beachtete nicht das Blühen und Sprießen. Früher hatten diese Erscheinungen mich stets mit der größten Freude erfüllt, so tief war ich in meine Ideen vergraben. Und die Blätter wurden welk, noch ehe mein Werk vollendet dastand; aber jeder Tag ließ mich jetzt einen Fortschritt erkennen. Nur war mein Eifer einigermaßen mit Angst gemischt. Ich hatte Gefühle, wie sie ein Sklave hegen muß, der in den Minen zu arbeiten gezwungen wird, nicht aber wie ein Künstler, der sein Lebenswerk schafft. Jede Nacht fieberte ich und wurde entsetzlich nervös; ein Knarren in der Diele ließ mich zusammenfahren und an den Menschen schlich ich vorbei, als hätte ich ein schweres Verbrechen auf dem Gewissen. Und wenn ich mich im Spiegel ansah, erschrak ich über mein Aussehen; nur der eiserne Wille hielt mich noch aufrecht, mein Ziel zu erreichen. Nun war es bald zu Ende und ich konnte dann durch körperliche Übungen und Vergnügungen dem drohenden Unheil Einhalt tun; und das versprach ich mir, wenn ich nur erst meine Schöpfung vollendet haben würde.
Fünftes Kapitel
Es war eine trostlose Novembernacht, als ich mein Werk fertig vor mir liegen sah. Mit einer Erregung, die fast einer Todesangst glich, machte ich mich daran, dem leblosen Dinge den lebendigen Odem einzublasen. Es war schon ein Uhr morgens. Der Regen klatschte heftig an die Fensterscheiben, als ich beim Scheine meiner fast ganz herabgebrannten Kerze das trübe Auge der Kreatur sich öffnen sah. Ein tiefer Atemzug dehnte die Brust und die Glieder zuckten krampfhaft.
Wie könnte ich Ihnen beschreiben, was ich empfand, und das Ungetüm schildern, das ich da mit so viel Mühe und Fleiß geschaffen? Seine Glieder waren proportioniert und seine Züge hatte ich möglichst schön gemacht. Schön! Großer Gott! Seine gelbliche Haut genügte kaum, um das Geflecht von Muskeln und Adern zu decken; sein Haar war glänzend schwarz und lang; seine Zähne wie Perlen. Aber das alles bildete nur einen um so auffallenderen Gegensatz zu den wässerigen Augen, die sich von den Augenhöhlen kaum abhoben, der faltigen Haut und den schwärzlichen, schmalen Lippen.
Nichts ist flüchtiger als die menschlichen Gefühle. Nahezu zwei Jahre hatte ich gearbeitet, nur um etwas zu schaffen, dem ich Leben einflößen könnte. Dazu hatte ich mich also meiner Ruhe und Gesundheit beraubt! Mit der ganzen Glut meines Herzens hatte ich mich nach der Vollendung gesehnt, und nun war die Schönheit des Traumes verblichen, unsäglicher Schrecken und Ekel erfüllten mich. Unfähig, den Anblick meines Geschöpfes noch länger zu ertragen, rannte ich aus dem Laboratorium und in mein Schlafzimmer, wo ich auf- und abging, da ich keine Ruhe finden konnte. Schließlich aber kam doch eine entsetzliche Müdigkeit über mich und ich warf mich auf mein Lager, vollkommen angekleidet, und hoffte auf einige Zeit Vergessenheit zu finden. Es war umsonst! Wohl schlief ich, aber die furchtbarsten Träume quälten und ängstigten mich. Mir war, als sähe ich Elisabeth in der Blüte ihrer Jugend und Gesundheit in den Straßen von Ingolstadt dahinschreiten. Überrascht und erfreut eilte ich ihr nach und schloß sie in die Arme. Aber kaum hatte ich ihr den ersten Kuß auf die Lippen gedrückt, als sie fahl wurde wie eine Tote; ihre Züge veränderten sich und ich hielt den Leichnam meiner Mutter in den Armen. Ein Leichentuch umhüllte sie, in dessen Falten ekle Würmer krochen. Ich fuhr entsetzt auf; kalter Schweiß rann mir über die Stirn, meine Zähne klapperten und meine Glieder zitterten. Und da – da stand im bleichen, gelblichen Lichte des Mondes, das durch die Fenstervorhänge drang, das Ungeheuer, das ich geschaffen. Es hielt den Bettvorhang mit einer Hand zurück und stierte mich mit seinen Augen an, wenn man überhaupt von Augen reden kann. Es öffnete seine Kinnladen und stieß einige unartikulierte Laute aus, während sich die Haut seiner Wangen unter einem häßlichen Grinsen runzelte. Ob es gesprochen hat, kann ich nicht sagen, denn ich hörte es nicht, weil ich davonrannte, als es die Hand nach mir ausstreckte, und die Treppe hinuntereilte. Ich suchte Zuflucht im Hofe des von mir bewohnten Hauses. Dort ging ich bis zum Morgen auf und nieder, aufs tiefste erregt, und lauschte auf jeden Laut, der sich aus dem Hause vernehmen ließ. Mir war es, als müßte der häßliche Dämon nahen, dem ich so leichtsinniger Weise Leben verliehen hatte.
O, kein Sterblicher hätte ohne Grauen den Anblick dieses Gesichtes ertragen können. Eine Mumie, die lebendig geworden, konnte nicht so abscheulich sein als dieses Unding. Ich hatte es betrachtet, als es noch nicht vollendet war. Es war schon damals überaus häßlich, aber als diese Muskeln und Gelenke sich zu bewegen begannen, sah ich, daß ich etwas geschaffen, das sich Dantes Phantasie nicht grausiger hätte vorstellen können.
Es war eine Nacht, die ich mein Leben lang nicht vergesse. Zuweilen pochte mein Puls so rasch und heftig, daß ich fühlte, wie sich jede Ader anspannte; und dann war es mir, als müsse ich zu Boden sinken vor Schwäche und Elend. Es war aber nicht nur das Entsetzen, es war auch die bitterste Enttäuschung, was mich so niederdrückte. Die Träume, die ich so lange genährt, die meine Freude gewesen, wurden mir nun zu Höllenqualen; der Wechsel war zu rasch, zu überwältigend.
Endlich kam der Morgen heran, trüb und feucht, und mit meinen schmerzenden Augen konnte ich auf dem Kirchturm erkennen, daß es eben sechs Uhr war. Der Türhüter öffnete das Tor des Hofes, der diese Nacht meine Zuflucht gewesen, und ich eilte auf die Straße hinaus. Mit raschen Schritten ging ich in der Stadt herum und war in steter Furcht, daß mir an der nächsten Ecke das Ungeheuer entgegenkommen könnte, dem ich zu entfliehen wünschte. Ich wagte nicht heimzugehen, sondern irrte umher, trotzdem mich der Regen, der von dem grauen, trostlosen Himmel unaufhörlich herniederfloß, schon bis auf die Haut durchnäßt hatte.
[Während Frankenstein nun also herumirrt, gelangt er zufällig an die Station der Postkutsche, wo ihm sein Jugendfreund Henri Clerval entgegenkommt, der ihn besucht, weil Frankenstein bisher jede Nachricht in die Heimat vernachlässigt hatte.]
Ich zitterte am ganzen Leibe und war nicht imstande, an die Erlebnisse der vergangenen Nacht zu denken, geschweige denn von ihnen zu erzählen. Ich schlug ein rasches Tempo ein und bald hatten wir mein Haus erreicht. Ich überlegte und schauderte bei dem Gedanken, daß die Kreatur, die ich in meinem Zimmer zurückgelassen, immer noch dort sein könnte. Ich fürchtete mich, das Ungeheuer wieder zu erblicken, noch mehr aber fürchtete ich, Henry könnte es sehen. Ich bat ihn also, einige Augenblicke am Fuße der Treppe zu warten, und tastete mich durch das dunkle Treppenhaus hinauf zu meinem Zimmer. Erst als ich die Hand auf den Türdrücker legte, kam ich wieder zu mir und kalt lief es mir über den Rücken. Ich stieß die Tür mit raschem Rucke auf, wie es Kinder tun, die in ein Zimmer gehen sollen und erwarten, dort ein Gespenst stehen zu sehen. Aber keine Spur von dem Gefürchteten. Ich sprang förmlich in die Wohnung hinein, doch Wohnzimmer und Schlafzimmer waren leer; der unheimliche Geselle war fort. Ich konnte es gar nicht fassen, daß mir ein solch ungeheures Glück beschieden sein sollte. Aber nachdem ich mich überzeugt hatte, daß mein Feind wirklich geflohen war, klatschte ich vor Freude in die Hände und eilte hinunter zu Clerval.
[Kurz darauf und während Henri’s Besuch erleidet Frankenstein einen Nervenzusammenbruch aufgrund dessen, was er getan hat. Sein Freund pflegt ihn den gesamten Winter hindurch, bis er seiner Welt wieder gewahr wird und aus seinem Delirium erwacht. Nachdem noch weitere Zeit in Ingolstadt ins Land gegangen ist, erhält Victor dann schließlich einen Brief von seinem Vater, der einen Schicksalsschlag berichtet, der sofort veranlässt, dass Victor in die Heimat reisen muss. Denn sein jüngerer Bruder Wilhelm ist tot, der Junge fiel einem Verbrechen zum Opfer.
Siebtes Kapitel
[…]
Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlossen und ich mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringen. Da das Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte, beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See nach Plainpalais zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In unheimlicher Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das Naturschauspiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschritte. Bald war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ersten schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die Schleusen über mir.
Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlich brüllte. Er hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder erholt hatte, wandelte ich in der pechschwarzen Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiedenen Seiten aufgestiegen. Das stärkste hing gerade über der Stadt, über dem Teil des Sees, der sich zwischen Belrive und Copet ausdehnt. Ein anderes entlud sich mit schwachen Blitzen über dem Jura und ein drittes stand über dem Mole, einem spitzen Bergkegel östlich des Sees.
Eilig schritt ich dahin, während ich mich des ebenso herrlichen wie furchtbaren Schauspiels freute. Dieser tosende Kampf in den Lüften erregte mich; ich klatschte in die Hände und schrie laut: »Wilhelm, lieber Junge, das ist deine Leichenfeier, dein Totengesang!« Während ich dies ausrief, bemerkte ich im Dunkel, daß sich aus einem Gebüsch in meiner Nähe etwas herausschlich. Ich stand still und starrte gespannt nach der Stelle; ich konnte mich nicht getäuscht haben. Jäh zuckte ein Blitz auf – vor mir stand in seiner gigantischen Größe, in seiner übermenschlichen Häßlichkeit das Scheusal, der entsetzliche Dämon, dem ich das Leben gegeben. Was wollte er hier? War er vielleicht (ich schauderte bei dem Gedanken) der Mörder meines Bruders? Kaum war mir diese Möglichkeit durch den Kopf gefahren, da setzte sie sich schon als Gewißheit in mir fest. Meine Zähne klapperten und ich mußte mich gegen einen Baum lehnen. Die Gestalt huschte an mir vorbei und verschwand im Dunkel. Kein menschliches Wesen hatte Wilhelm getötet, er war es! Ein Zweifel erschien mir ausgeschlossen. Schon die Tatsache, daß mir der Gedanke überhaupt kam, war mir ein Beweis für seine Richtigkeit. Einen Augenblick dachte ich daran, den Dämon zu verfolgen und zu erwürgen; aber jeder Versuch wäre umsonst gewesen, denn im blendenden Lichte des nächsten Blitzes sah ich ihn an der senkrechten Wand des Mont Salêve, eines Berges, der sich südlich Plainpalais erhebt, hinaufklettern. Bald hatte er den Gipfel erreicht und war verschwunden.
Ich stand regungslos. Das Unwetter hatte aufgehört, aber es regnete noch immer und alles ringsum war in rabenschwarze Finsternis gehüllt. Vor meinem Geiste rollten sich in rascher Folge all die Ereignisse ab, die ich mit größter Mühe zu vergessen getrachtet hatte: die Vorarbeiten meiner unseligen Schöpfung, das Erscheinen der Kreatur an meinem Bett und ihr Verschwinden. Zwei Jahre fast waren seit jener Nacht verronnen, da das Werk meiner Hände zu leben begann. War das sein erstes Verbrechen? Leider hatte ich ein Scheusal auf die Welt losgelassen, das an grausigen Bluttaten seine Freude hatte. Hatte er denn nicht meinen Bruder getötet?
Ich kann nicht beschreiben, welche Angst ich in jener Nacht litt, die ich, durchnäßt und halb erfroren, im Freien verbrachte. Das Wetter ließ mich ganz gleichgültig; ich erschöpfte mich im Durchdenken all des Leides und der Verzweiflung, die mir noch bevorstanden. Was für ein Wesen hatte ich da in die Welt gesetzt? Mit starkem Willen und großer körperlicher Kraft hatte ich es ausgerüstet, die es nun zu blutigen Zwecken mißbrauchte, wie die Tatsachen bewiesen. Es war wie mein eigener Vampyr, der aus dem Grabe zurückkehrt, um alles zu zerstören, was ihm im Leben lieb war.
[Victor Frankenstein beschreibt die folgende Zeit als schwere Last in seinem Elternhaus, auch weil er sich für alles Unheil, immer wieder verantwortlich sieht. Schließlich machte er eine Reise in die Berge.]
Zehntes Kapitel
[…]
Während ich mich diesen Gedanken hingab, bemerkte ich in einiger Entfernung die Gestalt eines Menschen, der mit übernatürlicher Eile auf mich zukam. Er sprang über die Eisschrunden, die ich nur mit äußerster Vorsicht überklettert hatte; er schien, je näher er mir kam, immer mehr von außergewöhnlicher Größe. Ich zitterte – ein Schleier legte sich über meine Augen und ich meinte umsinken zu müssen. Aber rasch erholte ich mich wieder unter dem eisigen Wind, der mir da oben um die Schläfen fegte. Ich erkannte, als er näher kam, daß es mein gehaßter Feind war, den ich mir geschaffen. Zorn und Abscheu hatten sich meiner bemächtigt und ich konnte kaum mehr den Augenblick erwarten, daß er mir nahe genug war, um mich mit ihm im Kampfe auf Leben und Tod zu messen. Nun stand er vor mir. In seinem Antlitz lag tiefes Leid, gemischt mit Verachtung und Bosheit, und seine unbeschreibliche Häßlichkeit bot einen Anblick, der für ein Menschenauge kaum zu ertragen war. Aber ich bemerkte das zuerst nicht. Wut und Haß ließen mich gar nicht zum Handeln kommen und machten sich dann Luft in Worten der tiefsten Verachtung und des äußersten Abscheues.
»Teufel, verfluchter,« rief ich aus, »wagst du es, mir vor die Augen zu treten? Und fürchtest du nicht, daß dich mein rächender Arm zerschmettert? Fort von mir, du häßliches Insekt! Oder besser bleib, daß ich dich zu Staub zermalmen kann! Und könnte ich doch, indem ich das Licht deines verhaßten Lebens ausblase, die Opfer wieder lebendig machen, die du in teuflischer Bosheit vernichtet hast!«
»Ich wußte, daß du so zu mir sprechen würdest,« sagte der Dämon. »Alle Menschen verfolgen mich mit ihrem Haß. Und warum muß ich gerade so gehaßt werden, der ich doch selbst so über alle Maßen elend bin? Und auch du, mein Schöpfer, du fluchst und zürnst mir, deinem Geschöpf, mit dem dich doch Bande verknüpfen, die nur durch die Vernichtung eines von uns beiden gelöst werden können. Du willst mich töten? Wie kannst du so verschwenderisch mit dem Leben umgehen? Tu deine Pflichten gegen mich und ich werde auch die meinen gegen dich und alle übrigen Menschen erfüllen. Wenn du dich entschließen kannst, auf meine Bedingungen einzugehen, will ich dich und die Deinen in Ruhe lassen. Aber wenn du nein sagst, dann will ich Freund Hein seinen Bauch mit dem Blute der Deinigen füllen.«
»Ekelhaftes Scheusal! Die furchtbarsten Qualen der Hölle sind noch viel zu gelind für dich. Verfluchter Satan, du wirfst mir vor, daß ich dich schuf! Komm her, und ich will den Funken zertreten, den ich in so leichtfertiger Weise angefacht.«
Der Zorn packte mich und ich sprang auf ihn ein, getrieben von dem tötlichsten Haß, dessen eine Menschenbrust fähig ist.
Gewandt wich er meinem Angriff aus und sagte:
»Beruhige dich! Ich flehe dich an, höre, was ich dir zu sagen habe, ehe du deinem Zorn gegen mich freien Lauf gewährst. Habe ich noch nicht genug Leid getragen, daß auch du es noch vergrößern mußt? Das Leben, mag es auch nur eine Reihe von Qualen für mich sein, so ist es mir doch lieb und ich bin gesonnen es zu verteidigen. Vergiß nicht, daß du mich viel stärker gemacht hast als du selbst bist; ich bin größer als du und meine Glieder sind mächtiger als die deinen. Aber ich habe gar nicht die Absicht, meine Kräfte gegen dich zu erproben. Ich bin deine Kreatur und ich will dir, meinem Herrn und König, dankbar und ergeben sein, wenn du das tust, was du mir schuldest. Frankenstein, du bist gerecht und gut gegen andere, nur gegen mich allein, der deiner Liebe, Güte und Gerechtigkeit am meisten bedarf, bist du grausam und hart. Bedenke doch, daß ich ein Werk deiner Hände bin! Eigentlich sollte ich der Adam sein, aber ich bin mehr der gefallene Engel, einer, den du aus dem Paradies vertreibst und elend machst. Überall sehe ich Freude und soll doch ihrer nie teilhaftig werden. Ich war gut und wohlwollend; das Unglück hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Verschaffe mir das Glück und ich will stille sein.«
»Pack dich! Ich will nichts mehr von dir hören. Zwischen dir und mir kann es keine Gemeinschaft geben, wir sind Todfeinde. Geh oder laß uns unsere Kräfte im Kampfe messen, in dem einer von uns bleiben muß!«
»Wie kann ich dein Herz rühren? Kann denn kein Bitten, kein Flehen dich bewegen, gnädig auf dein Geschöpf zu blicken, das dich um Güte und Mitleid bittet? Glaube mir, Frankenstein, ich war anfangs nicht böse, in meiner Seele wohnten Güte und Liebe; aber ich bin allein, so furchtbar allein. Du, mein Schöpfer, verabscheust mich, und was habe ich von deinen Mitmenschen zu erwarten, die mir so gar nicht nahestehen? Sie hassen und verfolgen mich. Die öden Berghalden und traurigen Gletscher sind meine Zufluchtsorte. Ich habe mich hier so manchen Tag aufgehalten. Die Eishöhlen, die allein ich nicht fürchte, sind meine Wohnstätten, und um sie beneidet mich kein menschliches Wesen. Ich segne diesen kalten Himmel, denn er ist gütiger mit mir als deine Mitmenschen. Glaube mir, es wissen ja nicht viele von meiner Existenz; aber wenn das der Fall wäre, dann würden sie sich, wie du, zu meiner Vernichtung entschließen. Soll ich denn die nicht hassen dürfen, die mich so verabscheuen? Und ich lasse nicht mit mir spaßen. Ich bin elend und verflucht und sie sollen es auch werden. Du hast es in der Gewalt, mich versöhnlich zu stimmen und die Welt von einem Ungeheuer zu befreien, das nicht nur dich und die Deinen, sondern auch Tausende anderer im Wirbelwinde seines Zornes zermalmen kann. Habe Mitleid mit mir und verachte meine Bitten nicht. Höre, was ich dir erzähle, und dann überlaß mich meinem Schicksal oder habe Mitleid mit mir; wie du meinst, daß ich es verdiene. Aber höre mich zuerst an. Eure Menschengesetze sind roh und blutig, aber dennoch gestatten sie dem Verbrecher, zu seiner Verteidigung das Wort zu ergreifen. Höre mich an, Frankenstein. Du beschuldigst mich des Mordes und wolltest, ohne daß sich dein Gewissen geregt hätte, dein Geschöpf vernichten. Gepriesen sei die ewige Gerechtigkeit der Menschen! Aber ich bitte dich gar nicht um Schonung. Höre mich zuerst an, und dann, wenn du kannst und mußt, dann zerstöre das Werk deiner Hände.«
»Warum erinnerst du mich,« erwiderte ich, »an die unseligen Ereignisse, die mich heute noch erschauern machen, an die Zeit, da ich dich ins Leben rief? Verdammt sei der Tag, elender Teufel, da du das erste Mal das Licht sahst. Verflucht seien die Hände, die dich formten! Du hast mich über alle Maßen unglücklich gemacht. Du hast mir die Kraft genommen zu unterscheiden, was gut und böse ist. Geh! Laß mich deine verhaßte Gestalt nie wieder sehen.«
»So will ich meine Gestalt deinen Blicken entziehen,« sagte er und hielt mir seine mächtige Hand vor die Augen, die ich mit Grauen wegschlug. »So könntest du mich wenigstens hören und Mitleid mit mir haben. Bei meinem besseren Ich beschwöre ich dich, höre meine Worte. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist lang und seltsam, und auf diesem Platze herrscht eine Temperatur, die deinem feinen, zierlichen Leib nicht zusagen dürfte. Komm mit mir in meine Hütte auf dem Berge. Die Sonne steht jetzt noch hoch. Ehe sie hinter jenen schneeigen Höhen hinuntergestiegen ist und anderen Ländern leuchtet, hast du meine Geschichte gehört und kannst dich entscheiden. An dir liegt es, ob ich dann die Nähe der Menschen fliehe und irgendwo versteckt ein harmloses Dasein führe oder dir und vielen anderen zum Würger werde.«
Unterdessen hatte er den Weg über das Eis eingeschlagen und ich folgte ihm. Mein Herz war zu voll und ich fand keine Worte, um ihm irgend etwas zu erwidern. Aber während ich ging, erwog ich die verschiedenen Umstände, deren er Erwähnung getan, und beschloß, zum mindesten seine Geschichte anzuhören. Hauptsächlich war es Neugierde, die mir diesen Entschluß eingab, aber auch ein schwaches Gefühl des Mitleids mengte sich hinein. Ich hatte ihn bisher für den Mörder meines Bruders gehalten und war begierig, aus seinen Worten eine Bestätigung oder Widerlegung dieser Ansicht zu vernehmen. Ich empfand auch das erste Mal, daß ein Schöpfer seinem Werke gegenüber Verpflichtungen habe und daß ich versuchen müsse, dem Armen etwas Glück zu bescheren. All diese Erwägungen machten mich seinen Bitten geneigter. Wir passierten das Eis und stiegen die Felswand hinan. Es war eiskalt und der Regen begann wieder herab zu rieseln. Wir betraten die Hütte. Mein Feind mit einer Geberde des Triumphes, ich aber mit schwerem Herzen und in tiefster Niedergeschlagenheit. Aber ich hatte versprochen ihn anzuhören und setzte mich deshalb zum Feuer, das mein unangenehmer Gesellschafter angezündet hatte. Dann begann er seine Erzählung.
Elftes Kapitel
»Mit Mühe nur erinnere ich mich der ersten Zeit, nachdem ich entstanden war. Alles, was sich in jener Zeit ereignete, ist mir unklar und verschleiert. Eine Menge unbestimmter Gefühle bemächtigte sich meiner, meine sämtlichen Sinne traten zugleich in Aktion und es bedurfte längerer Erfahrung, bis ich sie auseinander zu halten vermochte. Ich erinnere mich, daß helles Licht auf mich eindrang, so daß ich die Augen schließen mußte. Dann wurde es dunkel um mich und ich fürchtete mich. Als ich dann die Augen wieder öffnete, war es so hell wie zuvor. Ich setzte mich in Bewegung und stieg auf die Straße hinab. Da war es nun wieder ganz anders. Vorher hatten mich undurchsichtige Grenzen umgeben, die ich weder körperlich noch auch mit den Augen durchdringen konnte; draußen aber bemerkte ich, daß ich mich ungehindert zu bewegen vermochte. Das Licht tat mir allmählich weh und zugleich belästigte mich die große Hitze. Ich suchte deshalb einen Platz aus, wo ich mich im Schatten ausruhen konnte. Es war dies ein Wald in der Nähe von Ingolstadt, und hier ließ ich mich am Ufer eines Baches nieder und ruhte, bis mich Hunger und Durst auftrieben. Ich verzehrte Beeren, die ich an Sträuchern oder am Boden fand. Dann stillte ich meinen Durst mit dem Wasser des Baches und legte mich wieder schlafen.
[Danach ist er gezwungen weiterzuziehen. Er findet schließlich einen Verschlag an einem Haus im Wald, in dem er sich niederlässt und von wo aus er die Familie des Hauses beobachtet und dadurch etwas über die Menschen, ihre Gefühle, ihren Alltag, die Sprache und das Lesen lernt.]
Zwölftes Kapitel
Immer lebhafter beschäftigten sich meine Gedanken mit diesen Menschen. Ich verlangte danach, auch ihre Gefühle kennen zu lernen; vor allem wollte ich herausbringen, warum Felix so niedergeschlagen, Agathe so traurig war. Ich dachte – Narr, der ich war! – daß es vielleicht in meiner Macht stände, ihnen das Glück wiederzugeben. Im Schlafen und im Wachen standen mir die Gestalten vor den Augen, der verehrungswürdige alte Mann, das reizende Mädchen, der schöne junge Mensch. Sie kamen mir vor wie höhere Wesen, wie Götter, die über mein künftiges Schicksal zu entscheiden hätten. Ich stellte mir tausendmal in meinem Innern vor, wie sie mich wohl aufnehmen würden, wenn sie mich das erste Mal sähen. Ich dachte mir, daß sie anfangs ja sehr erschrecken, dann aber, gewonnen durch meine Güte und mein mildes Wesen, mir ihre Gunst und schließlich ihre Liebe schenken müßten.
Diese Gedanken munterten mich auf und veranlaßten mich, mit gesteigertem Eifer mich dem Studium ihrer Sprache hinzugeben. Mein Organ war hart, das ist wahr, aber es war auch biegsam. Wenn auch die Laute, die ich hervorbrachte, keinen Vergleich aushielten mit dem Wohllaut ihrer Stimme, so vermochte ich doch immerhin mich, wie ich glaubte, verständlich zu machen. Jedenfalls verdiente ich, der ich doch die besten Absichten hegte, etwas Besseres als Schläge und Verwünschungen.
Unter den warmen Regenschauern und dem wohligen Wehen der Frühlingswinde nahm die Erde allmählich ein ganz anderes Aussehen an. Die Menschen, die sich vorher unter dem rauhen Atem des Winters in ihre engen Wohnungen zusammengepfercht hatten, zerstreuten sich in Feld und Flur, um sich dort verschiedenen Beschäftigungen hinzugeben. Die Vögel sangen lieblich und überall grünte es an den Zweigen. Glückliche, schöne Erde! Jetzt ein Wohnsitz für Götter, und doch war sie noch vor kurzer Zeit traurig, öde und kalt. Auch in meinem Innern wirkte der Frühling wohltätig; das Vergangene war vergessen, die Gegenwart war ruhig und fröhlich, und die Zukunft lag vor mir im goldenen Sonnenschein der Hoffnung und der Freude.
[Frankensteins Schöpfung erzählt im Folgenden recht ausführlich die Lebensumstände der Familie und auch, was er für Schlüsse aus ihrem Leben zieht.]
Fünfzehntes Kapitel
Das war die Geschichte meiner Freunde. Sie machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich lernte daraus ihre guten Seiten schätzen und die Fehler des Menschengeschlechts mißbilligen.
Damals erschien mir jedes Verbrechen wie ein Übel, das vollkommen außerhalb meines Gesichtskreises lag. Ich meinte es wirklich gut und hoffte, ein nützliches Glied der kleinen Gesellschaft werden zu können, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte.
Bald nach meiner Ankunft in dem Schuppen hatte ich in einer Tasche des Kleides, das ich bei meiner Flucht aus deinem Laboratorium mitgenommen, einige Papiere entdeckt. Zuerst kümmerte ich mich nicht darum, aber nun, da ich sie zu entziffern vermochte, machte ich mich eifrig daran sie zu studieren. Es war dein Tagebuch aus den vier Monaten, die meiner Schöpfung vorausgingen. Du beschriebst darin jeden Fortschritt, den dein Werk machte, und dazwischen fanden sich wieder Notizen über deine Nachrichten von zu Hause. Du erinnerst dich sicherlich dieser Blätter. Hier sind sie. Alles, was darin steht, gibt Aufschluß über meinen Ursprung. Die ganzen häßlichen, abstoßenden Details sind anschaulich geschildert; du gibst die genaueste Beschreibung meiner verhaßten, abscheulichen Persönlichkeit in einer Sprache, die deinen Ekel nur zu deutlich zum Ausdruck bringt und mir unsägliches Leid verursachte. Ich wurde förmlich krank, als ich das alles las. »Verfluchter Tag, an dem ich ins Leben trat,« schrie ich in rasender Verzweiflung. »Verflucht sei mein Schöpfer. Warum mußtest du auch ein Ungeheuer schaffen, das so häßlich war, daß selbst du voll Ekel dich von mir abwandtest? Gott bildete den Menschen in seiner Güte nach seinem eigenen Bilde; aber du gabst mir Antlitz und Gestalt, die nur ein erschreckendes Zerrbild deines Leibes waren. Satan selbst hat seine Genossen, die mit ihm leben; aber ich bin allein und verhaßt, wo man mich erblickt.«
Das waren die Gedanken, die mein Elend und meine Einsamkeit gebaren.
[Der Dämon, wie Frankenstein seine Schöpfung unaufhörlich nennt, muss schließlich von dem Ort fliehen, an dem er das Menschsein erkannt hat, weil die Familie, die er für sich auserkoren hat, ihn nicht aufnimmt, sondern ihn vertrieben hat. Das führt bei ihm zu einem unbändigen Wunsch, den er schließlich Frankenstein vorbringt.]
Siebzehntes Kapitel
Der Dämon schwieg und heftete seine furchtbaren Augen auf mich, meine Antwort erwartend. Ich war so erstaunt und erschreckt, daß ich zuerst gar nicht imstande war, die Tragweite seines Wunsches zu ermessen. Er fuhr fort:
»Du mußt mir ein Weib schaffen, mit dem ich zusammen leben kann. Du allein kannst das und ich fordere es von dir; es ist mein Recht, das du mir nicht versagen darfst.«
Der letzte Teil seiner Erzählung hatte in mir wieder den Haß gegen ihn erweckt, der bei der Schilderung seiner Erlebnisse mit der Familie de Lacey etwas eingeschlummert war und sogar einem gewissen Gefühl der Teilnahme Platz gemacht hatte, dann aber brach ich wütend los:
»Das werde ich nicht, und keine Qual wird je ein Zugeständnis aus mir herauspressen. Du kannst mich verstümmeln und töten, du kannst mich zum elendesten der Menschen machen, aber du wirst es nie so weit bringen, daß ich in meinen eigenen Augen wie ein Schurke dastehe. Ich soll ein solches Wesen schaffen, damit ihr vereint eure verruchte Bosheit auf die Welt loslassen könnt? Aus meinen Augen! Meine Antwort hast du. Martere mich, aber glaube nicht, daß ich deinen Wunsch erfülle.«
»Du bist im Irrtum«, erwiderte der Dämon. »Und anstatt dir zu drohen, bitte ich dich, meinen Vernunftgründen dein Ohr zu leihen. Ich bin nur schlecht, weil ich elend bin. Verfolgen und hassen mich nicht alle, die mich erblicken? Du, mein Schöpfer, du würdest mich frohlockend in Stücke reißen. Sage mir, warum soll ich mit den Menschen mehr Mitleid haben als sie mit mir? Du würdest dich keines Mordes schuldig fühlen, wenn du mich, das Werk deiner Hände, in eine dieser Eisspalten werfen und zerschmettern könntest. Soll ich jemand achten, der mich verachtet? Glaube mir, wenn jemand sich entschließen könnte, gut gegen mich zu sein, ich würde es ihm mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen danken und ihm alles Gute tun, was in meiner Macht stünde. Aber das wird ja nie geschehen; die menschlichen Sinne bilden unüberwindliche Hindernisse. Doch gedenke ich nicht, mich ohne weiteres zu fügen. Ich will mich für das Erlittene rächen. Wenn ich nicht Liebe einflößen kann, dann will ich Furcht und Entsetzen verbreiten. Und ganz besonders dir, meinem Schöpfer, meinem Erzfeind, schwöre ich unauslöschlichen Haß. Hüte dich! Ich will an deinem Verderben arbeiten und nicht enden, ehe ich dich so unglücklich gemacht, daß du der Stunde deiner Geburt fluchst.«
Teuflische Wut leuchtete aus seinen Augen, als er dies sagte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer unbeschreiblich schrecklichen Grimasse; aber rasch beherrschte er sich und fuhr ruhiger fort:
»Doch ich hatte ja die Absicht, vernünftig mit dir zu reden. Diese Leidenschaftlichkeit hat keinen Zweck, denn du bist dir ja doch nicht im klaren, daß du alles verschuldet hast. Ein einziger Mensch nur sollte mir sein Wohlwollen beweisen, und um dieses Einen willen würde ich Frieden schließen mit seinem ganzen Geschlecht. Aber ich will nicht in Träumen schwelgen, die doch nie zur Wirklichkeit werden. Was ich von dir fordere ist gerechtfertigt und bescheiden. Ich verlange ein Wesen, das von mir geschlechtlich verschieden, aber ebenso häßlich ist wie ich. Es ist nur wenig, was ich von dir erbitte, aber es ist mir genug. Wahr ist ja, daß wir Ungeheuer sind, die mit der Welt nichts zu schaffen haben; aber umso lieber werden wir einander sein. Wir werden kein glückliches Leben führen, aber wir werden niemand etwas zu Leide tun. O mein Schöpfer, tu mir das zu Liebe; ich will dir für diese eine Wohltat unbegrenzt dankbar sein. Laß mich sehen, daß wenigstens ein lebendes Wesen Mitleid mit mir hat und schlage mir meine Bitte nicht ab.«
Ich war erschüttert; dabei graute mir vor dem Gedanken an die etwaigen Folgen meiner Zustimmung. Aber ich fühlte, daß in seinen Worten eine gewisse Logik lag. Aus seiner Erzählung und aus den Gefühlen, die er mir geoffenbart, konnte ich entnehmen, daß er ursprünglich ein zartes Innenleben besaß. Schuldete ich ihm nicht, nachdem ich ihn einmal geschaffen, auch all das Glück, das ich ihm bescheren konnte? Er merkte, daß ich schwankte, und fuhr fort:
»Wenn du tust, um was ich dich bitte, sollst weder du noch irgend ein anderes menschliches Wesen fürderhin noch etwas von mir hören. Ich will in die weiten Urwälder Südamerikas gehen. Meine Nahrung ist nicht die blutige der Menschen. Ich vernichte nicht Lämmer und Ziegen, um meinen Hunger zu stillen; Nüsse und Beeren genügen mir. Da meine Genossin ebenso beschaffen sein wird wie ich, wird auch sie mit der gleichen Nahrung vorlieb nehmen. Wir werden uns unser Lager aus trockenen Blättern bereiten und die Sonne wird uns ebenso warm scheinen wie den Menschen. Das Bild, das ich dir von unserem künftigen Leben entwarf, ist gewiß ein friedliches und harmloses, und nur in verbohrter Grausamkeit und starrem Eigensinn kannst du mir die Gewährung meiner Bitte versagen. Erbarmungslos warst du bisher gegen mich, aber nun sehe ich deine Augen in einem Schimmer von Mitgefühl leuchten. Laß diesen Augenblick nicht vorübergehen, ohne mir zu versprechen, daß du das tun wirst, um was ich dich bat.«
»Du hast mir ja allerdings versprochen, mit deiner Genossin die Wohnstätten der Menschen zu fliehen und dich in jenen Gegenden niederzulassen, wo nur die Tiere der Wildnis deine Wege kreuzen. Aber wer gibt mir Gewißheit, daß du, der du dich doch so sehr nach der Liebe der Menschen sehnst, es in deinem Asyl aushalten wirst? Du wirst zurückkehren und dich wieder den Menschen zu nähern versuchen und wieder auf ihre Abneigung stoßen. Dein Haß wird von neuem auflodern und du wirst dann nicht mehr allein sein bei deinem Zerstörungswerke. Und das darf nicht sein; gib dir keine Mühe mehr, ich darf nicht ja sagen.«
»Wie unverlässig sind doch eure Gefühle! Eben noch warst du fast gewonnen und nun verschließest du dich plötzlich wieder meinen Bitten. Ich schwöre dir bei der Erde die mich trägt, bei dir selbst, mein Schöpfer, daß ich mit meiner Genossin weit, weit fortgehen werde von den Plätzen, wo Menschen wohnen. Mein Haß wird dann verlöschen, wenn ich einmal nur Wohlwollen gegen mich sehe. Mein Leben wird in Ruhe dahinfließen, und wenn ich sterben muß, dann kann ich dankbar dessen gedenken, der mich geschaffen.«
Seine Worte hatten eine merkwürdige Wirkung. Er tat mir leid und ich hatte das Bedürfnis ihm zu helfen. Aber wenn ich ihn ansah, diese sprechende und wandelnde Fleischmasse, dann ergriff Ekel und Entsetzen mein Herz. Ich versuchte diese Gefühle der Abneigung zu unterdrücken. Dann sagte ich mir, daß ich ihn ja nicht zu lieben brauchte, aber die Verpflichtung hätte, ihn nach meinen Kräften glücklich zu machen. Und es war ja wenig genug, was er forderte.
»Du hast geschworen, niemand mehr etwas zu Leide zu tun,« sagte ich. »Aber hast du denn nicht schon so viel Bosheit gezeigt, daß ich dir mit Recht mißtrauen darf? Kann das nicht eine Vorspiegelung sein, um deine Grausamkeiten nur noch in erhöhtem Maße ausüben zu können?«
»Was soll das heißen? Ich will nicht mit mir scherzen lassen, sondern ich verlange eine strikte Antwort. Wenn ich nicht Liebe finde, ist Haß und Verbrechen mein gutes Recht. Liebe allein vermag das Schlimme, das in mir lauert, zu verhüten, und ich werde ein Geschöpf werden, von dessen Existenz niemand eine Ahnung hat. Meine Verbrechen sind nur Früchte der verhaßten Einsamkeit und meine Tugenden werden dann zur vollen Geltung kommen, wenn ich mit einem Anderen mein Leben teilen kann. Ich werde mit einem fühlenden Wesen zusammen sein und meine Existenz wird ein Glied bilden in der Kette der Existenzen und Ereignisse, wie ich es mir erhofft.«
Ich dachte noch eine Zeitlang über alles nach, was er mir erzählt hatte, und erwog das Für und Wider. Ich war mir klar, daß sein ursprünglich gutmütiges Wesen durch die schlechte Behandlung von Seiten aller, die ihm begegneten, verdorben worden war. Und in meinen Erwägungen spielten seine außergewöhnliche Kraft und die Drohungen, die er ausgestoßen, eine bestimmende Rolle. Ein Wesen, das, wie er, in den Eishöhlen der Gletscher wohnen und sich vor allen Verfolgungen in die unzugänglichsten Schroffen der Gebirge flüchten konnte, durfte nicht unterschätzt werden. Nach längerem Zögern stand dann mein Entschluß fest, mit Rücksicht auf ihn selbst und besonders meine Mitmenschen seinen Wunsch zu erfüllen. Ich wandte mich zu ihm und sagte:
»Ich werde also deinen Willen tun. Aber du mußt mir feierlich versprechen, daß du Europa und überhaupt jede von Menschen bewohnte Gegend sofort verläßt, sobald ich dir das Weib übergebe, das dir in die Verbannung folgen soll.«
»Ich schwöre es dir bei der Sonne, bei dem blauen Himmel und bei der heißen Glut, die in meinem Herzen lodert, daß du mich nimmer sehen sollst, wenn du mein Flehen erhört hast. Geh heim und beginne mit der Arbeit. Ich werde mit Sehnsucht ihren Fortschritt beobachten und erst dann mich wieder bei dir sehen lassen, wenn das Werk vollendet ist.«
Nachdem er das gesagt, eilte er davon, so rasch er konnte, weil er vielleicht eine Sinnesänderung bei mir befürchtete. Er sprang in großen Sätzen zu Tal und verschwand bald in den Schrunden des Eismeeres.
[…]
Noch ein paar Gedanken zu Frankenstein
Das war eine Lesung in Auszügen aus Mary Shelley’s Roman Frankenstein. Ich hoffe, sie hat euch gefallen und konnte euch davon überzeugen, dass es wirklich ein großartiges Buch ist. Und ja, wenn ihr es lest, erfahrt ihr auch, wie sich die Geschichte weiterentwickelt und vor allem die ganzen Nebenstränge und Details, die ich hier ausgespart habe. Besonders spannend wird es auch nochmal, wenn Frankenstein sich an die Schöpfung einer Gefährtin für seinen sogenannten Dämon begibt und welche Gedanken ihn dort nochmal einholen und wie er sich dann entscheidet. Denn natürlich ist es hier nicht zu Ende und die Geschichte geht nicht damit aus, dass Frankensteins Geschöpf eine Gefährtin bekommt und sie sich auf ewig glücklich in den südamerikanischen Urwald zurückziehen. Es gibt noch einiges zu entdecken in dieser Geschichte.
Ja, vielleicht habt ihr in den ausgesuchten Abschnitten des Vorgelesenen auch wiedergefunden, was exakt unserem heutigen Diskurs über das Thema künstliche Intelligenz spiegelt. 200 Jahre nach Erscheinen dieses Romans stellen wir uns im Grunde noch die gleichen Fragen. Was ist das Leben? Was ist Intelligenz? Wo beginnt das Bewusstsein? Was ist gut und böse? Und wie kann ein Geschöpf gut werden oder böse werden? All solche Dinge stecken hier mit drin. Und all das ist auch das, was wir uns fragen müssen, wenn wir Bewusstsein erschaffen wollen.
Mary Shelley hat übrigens noch mehr Bücher als Frankenstein geschrieben. Wer zum Beispiel in den letzten Jahren nicht genug über Pandemien nachgedacht hat, könnte vielleicht „Der letzte Mensch“, Originaltitel „The Last Man“ von Shelley lesen. Das wurde 1826 veröffentlicht. Es handelt davon, wie eine Plage droht, den Menschen auszurotten. Ihr kennt das ja. Und wie am Anfang versprochen, möchte ich nochmal auf die Frage zurückkommen, wer nun eigentlich die Science Fiction wirklich erfunden hat. Dafür möchte ich einen Tweet von Nnedi Okorafor zitieren.
„This debate about one person being the mother or father of science fiction and that one person always being white, I’m just rolling my eyes, so sick of this limited conversation. People still aren’t ready to hear that science fiction has multiple lines of lineage.“
Das ist etwas, worauf ich auch immer wieder reinfalle und worauf ich beim Denken dieser Folge auch reingefallen bin. Tatsächlich muss mensch auch in der Literaturwissenschaft viel öfter und naturgemäßer netzwerkartig denken und das vor allem auch deutlicher thematisieren. Der Einflusskreis, dem wir als Menschen unterliegen, ist oft größer als die Oberfläche ahnen lässt und auch in Technik oder Wissenschaft wurden Erfindungen auch oft unabhängig von verschiedenen Menschen entwickelt, an verschiedenen Orten, fast zeitgleich oder knapp versetzt zueinander im gleichen Jahrzehnt oder ähnliches. Ein Genre kann daher auch nicht nur auf die eine Person zurückgehen. Und beim, ich sag’s mal so, Kampf gegen die Jules Verne Erzählung, vergisst mensch zu oft diesen weiten Blick, da wird die eine bekannte Person genannt, die aber eben auch nur eine neben anderen ist, eine herausragende, die sogar bereits Sichtbarkeit hat, auch wenn trotzdem zu wenig. Historikerinnen oder Soziolog*innen sprechen da auch oft von einer „multiple independent discovery“, etwas, das zeitgleich quasi passiert, aber unabhängig voneinander ist und das ist gar nicht mal so selten in vielen Jahrhunderten gewesen.
Als Literaturwissenschaftlerin muss ich natürlich auch noch kurz darauf abheben, dass in Mary Shelley’s Frankenstein natürlich auch ein romantischer Gedanke dahinter steckt und zwar nicht der Gedanke einer Romanze, sondern ja, aus dem romantischen Zeitalter, wo es vor allem darum ging, die Einheit zwischen Natur und Handlung darzustellen, also wie der Mensch in der Natur ist, von der Natur beeinflusst wird und ihr teilweise auch irgendwo unterliegt und versucht, sie zu verstehen. Deswegen kommt es in Frankenstein wahrscheinlich auch recht häufig dazu, dass die größten Schreckensszenen von Gewittern, Regen und dergleichen begleitet werden, weil hier auch wieder die Natur die Handlung unterstützt und unterstreicht als etwas, das in dieser Kulisse stattfindet.
Ja, aber darüber hinaus hat Mary Shelley eben auf dem wissenschaftlichen Stand ihre Zeit geschrieben und auch darüber hinausgehend weiter gedacht. Und deswegen kommen wir hier zu dem Gedanken mit der Science Fiction und Frankenstein, denn was ist der eigentliche Gedanke von Science Fiction? Es ist der Gedanke: Was wäre wenn? Und zwar ist Science Fiction oft damit konfrontiert, ein Szenario zu entwickeln, das irgendwie über das, was wir jetzt erleben, hinausragt, etwas aber auch widerspiegelt und vor allem aber darauf abzieht, die moralische Tiefe, die dahinter steckt, auszuloten. Und im Fall von Mary Shelley ist es eben, ja, eine Art von Schöpfungsmythos und den wir eben jetzt übertragen können auf künstliche Intelligenz. In den Anfängen, die sie macht, auf dem wissenschaftlichen Stand ihrer Zeit, kann man quasi diese gerade Linie ziehen, was ist, wenn das Geschaffene ein selbstständiges Bewusstsein entwickelt und eigene Rechte einfordert.
Wobei natürlich zu sagen ist, dass es hier um echte künstliche Intelligenz geht oder um das Gedankenspiel damit und was heißt hier echt? Es ist eben nicht nur ein kleines neuronales Netz, das manchmal ja als künstliche Intelligenz bezeichnet wird im Sprachgebrauch, aber es basiert lediglich auf Trainingsdaten, auf dessen Basis beschränkte Fertigkeiten entwickelt werden. Aber hier geht es eben tatsächlich um die Frage, was passiert, wenn wir ein künstliches Bewusstsein erschaffen, das nicht eingebettet ist in das, was wir menschlich nennen, sondern darüber hinaus wachsen kann auch.
Ja, so viel zu den abschließenden Gedanken. Das war es dann für diese Folge. Ich hoffe, dieser Ausflug in die Literatur hat euch gefallen und ihr seid auch bei der nächsten Folge vom haecksenwerk wieder dabei.
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